Dunkle Gestalten, große Waffen, Schüsse – und plötzlich liegen im Pioneer Park Hanau drei Leichen. Das ehemalige Kasernengelände im Hanauer Stadtteil Wolfgang, das in den kommenden Jahren zu einem großen Wohngebiet entwickelt wird, war am vergangenen Wochenende Schauplatz für eine Fernsehproduktion. Der Hessische Rundfunk (HR) nutzte die Pioneer-Kaserne für Dreharbeiten zu seinem neuen Tatort mit dem renommierten deutschen Schauspieler Ulrich Tukur. Der achte Fall für BKA-Ermittler Felix Murot wird voraussichtlich in etwa einem Jahr im Fernsehen zu sein.
Zwei Wochen lang hatte das Team daran gearbeitet, die leerstehenden Straßenzüge und Wohnblöcke im Triangle Housing wieder mit Leben zu füllen – in den Fenstern hängen Gardinen, auf den Balkonen wehen Fähnchen und Sonnenschirme, in den Straßen parken Autos. Sogar die Straßenlaternen leuchten zum ersten Mal seit rund zehn Jahren wieder. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, im Triangle Housing seien bereits die ersten neuen Bewohner eingezogen – auch wenn die Sanierungsarbeiten gerade erst begonnen haben und die ersten der rund 372 grundsanierten Eigentumswohnungen erst Mitte nächsten Jahres bezugsfertig sein werden. Eine der ehemaligen Soldaten-Wohnungen hatte der HR sogar komplett eingerichtet und mit Mobiliar ausgestattet.
„Fünf bis sechs Minuten werden am Ende von diesem Drehort zu sehen sein“, rechnet Produktionsleiter Ulrich Dautel hoch. Bis zum 13. September dauern die Dreharbeiten noch an, hauptsächlich wird in Frankfurt und auf einem ehemaligen Kasernengelände in Friedberg gearbeitet. „Wir hätten gerne mehr hier in Hanau gedreht, denn die Bedingungen sind ideal, aber die Baustellensituation hat das leider nicht zugelassen“, so Dautel. Auf der ehemaligen Pioneer-Kaserne sind die bauvorbereitenden Maßnahmen für das neue Wohngebiet, in dem rund 1600 Wohneinheiten entstehen werden, nämlich in vollem Gange. „Und wir konnten auch nicht ausschließen, dass während der Dreharbeiten bereits Abbrucharbeiten stattfinden“, erläutert Dr. Marc Weinstock, Geschäftsführer der Projektentwicklungsgesellschaft LEG Hessen-Hanau.
Der Hanauer Schauplatz wird im Tatort dennoch eine wichtige Rolle spielen. „Wir drehen hier eine der Schlüsselszenen“, berichtet Dautel. In dem Krimi, der unter dem Arbeitstitel „Der Angriff“ produziert wird, geht es um ein Mädchen (gespielt von Paula Hartmann), das seinen erschossenen Vater rächen will und sich in einer alten Polizeiwache verschanzt. Der Auslöser für ihren Rachefeldzug spielt auf den Straßen im Triangle Housing. Dort hatte das HR-Team einen kleinen Eiswagen samt Außengastronomie errichtet. Vater und Tochter fahren vor, schlendern zum Verkaufstresen. Auf der Straße hält ein dunkler BMW, die hintere Scheibe geht runter, ein Gewehr kommt zum Vorschein. Schüsse knallen durch die eigentlich leeren Straßen. Der Eisverkäufer und der Vater brechen tödlich getroffen zusammen, eine der dunklen Gestalten im Wagen stirbt wenig später.
Was schnell erzählt ist, dauert in der Realität Stunden. Die ganze Szene ist in mehrere Einzelstücke zerlegt, jede erfordert mehrere Einstellungen, mehrere Anläufe, bis die Aufnahmeleitung zufrieden ist. Immer wieder fahren die beiden Autos im Schritttempo durch die Straßen. Immer wieder steigen Tochter und Vater aus. Immer wieder wird das Gewehr im Zeitlupentempo aus dem Fenster geschoben. „Es klappt fast nie im ersten Anlauf“, erzählt Dautel. Dazwischen heißt es: Warten, Warten, Warten. Nicht nur darauf, dass die „Special-Effects“-Experten und der Waffenmeister das Gewehr wieder präpariert haben, sondern auch auf das Wetter. Mit Argusaugen blickt ein HR-Mitarbeiter im Dauertakt gen Himmel. Sobald sich eine Wolke vor die Sonne zu schieben droht, wird abgebrochen.
Insgesamt 25 Drehtage hat der HR für den neuen Tukur-Fall angesetzt. „Mehr als bei anderen Tatorten“, berichtet der Produktionsleiter. Der HR sei der einzige ARD-Sender, der seine Tatort-Folgen noch komplett selber drehe und produziere. Die Einsätze für BKA-Ermittler Felix Murot seien deshalb auch aufwändiger, experimenteller als andernorts. In Hanau ist Tukur, der zu den bekanntesten deutschen Schauspielern gehört und 2006 in dem Oscar-preisgekrönten Film „Das Leben der Anderen“ die Rolle des Oberstleutnants der DDR-Staatssicherheit Anton Grubitz verkörperte, nicht am Set. Dabei hätte es durchaus eine Verbindung zur Geburtsstadt der Brüder Grimm gegeben: 2013 erhielt der 61-Jährige, der auch als Musiker und Autor aktiv ist, den „Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache“.
Neben Tukur sind in dem achten Murot-Tatort Peter Kurth, Christina Große, Barbara Philipp, Thomas Schmauser, Paula Hartmann, Sascha Nathan und Clemens Meyer zu sehen. Regie führt Thomas Stuber, bei dessen preisgekrönten Kinofilmen „Herbert“ und „In den Gängen“ der HR Coproduzent war. Das Drehbuch stammt aus der Feder von Clemens Meyer und Thomas Stuber. Für die Umsetzung sorgen das Team Nikolai von Graevenitz (Kamera), Manfred Döring (Ausstattung), Christian Mathias (Ton), Stefan Blau (Schnitt), Francesca Merz (Kostümbild) und Nathalie Mischel (Casting). Die Produktionsleitung hat Ulrich Dautel, Redaktion haben Jörg Himstedt und Liane Jessen.
Wenn Mitte September die letzte Klappe für „Der Angriff“ gefallen ist, beginnt die zeitraubende Arbeit der Techniker. Rohschnitt, Feinschnitt, Vertonung, Sound-Design, Farbkorrekturen, Musik, Mischung und, und, und. „Die Nachproduktion dauert rund ein halbes Jahr“, erklärt Dautel. Er rechnet damit, dass der achte Fall von Felix Murot nach der Tatort-Sommerpause 2019 im „Das Erste“ zu sehen sein wird. Vielleicht flimmern die Bilder aus Triangle-Housing dann schon bei den ersten echten neuen Bewohnern des Pioneer Park Hanau über die Mattscheibe.